Dalibor Galić

Über neue Perspektiven

Im letzten Blog habe ich darüber geschrieben, wie wertvoll Fragen sind. Sie ermöglichen es uns, mehr über unser Gegenüber zu erfahren, wie es ihm oder ihr geht und was diese Person bewegt. Mit Hilfe reflexiver Fragen regen wir die Person an, verschiedene Modelle im Kopf durchzudenken („was würde passieren, wenn…“).

Bei diesen Fragen geht es um die eigene Welt und um die eigenen Denkmuster. Anstatt nur zu Fragen, wie die Person selbst über gewisse Dinge denkt, können wir den Wirkungskreis vergrößern. D.h. wir erweitern die Fragestellung um das betroffene Umfeld. Es geht dann nicht mehr nur um eine Person, sondern um ein ganzes System. Diese Fragen werden auch zirkuläre Fragen genannt. Damit bewegen wir uns in den systemischen Bereich – in das systemische Coaching. 

Mit zirkulären Fragen wird dazu angeregt, ein Problem oder eine Fragestellung aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Zum Einen aus der eigenen Perspektive natürlich. Die Person versetzt sich jedoch auch in andere Rollen bzw. Positionen: die vier Wahrnehmungspositionen. Die vier Wahrnehmungspositionen können besonders bei Konflikten helfen, diese von mehreren Seiten zu betrachten. 

Anmerkung: Das wir selbst eh immer im Recht sind und „die anderen“ immer etwas falsch machen, versteht sich sowieso von selbst und ich kann das aus eigener Erfahrung auch zu 100% bestätigen. Diesen offensichtlichen Umstand lassen wir aber vorerst mal außer acht. 

In den Schuhen des Anderen gehen

Was sind nun diese vier Wahrnehmungspositionen?

1. Position

In der ersten Position schildert die Person das Problem oder den Konflikt aus eigener Sicht. Sie beschreibt was sie denkt, fühlt, wie sie das sieht, wie es ihr dabei geht, etc. 

2. Position

In der zweiten Position versucht die Person zu beschreiben, wie der Konflikt aus Sicht des Anderen wohl aussehen könnte. Z.B. der Beziehungspartner mit dem man gerade einen Streit hat. Wie sieht dieser Partner das Problem? Die befragte Person soll sich in die Situation des anderen Beteiligten versetzen. Wie nimmt dieser Beteiligte das wahr, wie sieht er das, was fühlt er oder sie? Der Ausdruck „in den Schuhen des Anderen gehen“ spiegelt das gut wider. Man versucht in die Welt des anderen Beteiligten einzutauchen und die Situation mit seinen oder ihren Augen zu sehen. Dies wird landläufig auch unter Empathie verstanden.

3. Position

Wie sieht ein Unbeteiligter diese Situation? Stellen wir uns vor, dieser Streit zwischen zwei Partnern würde im Theater oder im Kino vorgetragen werden. So richtig mit Popcorn und Cola, vielleicht sogar mit 3D-Brille. Was würde sich ein Zuschauer im Publikum von diesem Streit denken? Was wären seine Gedanken und Gefühle dazu? Wie würde er diesen Streit interpretieren, worum geht es beiden Parteien? Was wollen sie, oder was versuchen sie zu vermeiden? Das bringt mehr Objektivität in die Situation.

Alle drei Positionen sind gleich wichtig und wir sollten im Stande sein, zwischen den drei Positionen wechseln zu können. Nur egoistisch in der ersten Position zu verharren, wird in sozialen Systemen eine Herausforderung sein. Wenn man permanent „in den Schuhen des Anderen geht“ vergisst man sich selbst und die eigenen Bedürfnisse sehr leicht. Das Leben distanziert aus der dritten Position zu beobachten, wird sämtliche Gefühle vermissen lassen und wahrscheinlich auch all jene anderen Dinge, die unser Leben zu etwas Wunderbarem machen.  

Ach ja, dass ich es nicht vergesse, es gibt auch noch eine…

4. Position

Die 4. Position ist die Kraftquelle. In einem anderen Blog habe ich den Kraftplatz beschrieben. Wir tanken Kraft auf und versuchen all jene wunderbaren Elemente aus unserem Kraftplatz in die erste und zweite Position zu transferieren. Was brauche ich gerade um aus dem Tief zu kommen? Und was braucht mein Gegenüber?

Das schöne an den vier Wahrnehmungspositionen ist, dass man das sehr gut alleine durchführen kann. Nachdem man sich lange genug über den anderen geärgert hat, kann man vorsichtig versuchen, sich in den anderen Beteiligten einzufühlen. Wie geht es der anderen Person, was mag sie gerade fühlen? Und was würde ein Fremder wohl zu der Situation sagen? Wie kann ich jetzt wieder Kraft tanken? Was brauche ich – was brauchen wir – damit es uns wieder besser geht?

Für all jene, denen das alles zu umständlich und langatmig ist, empfehle ich wärmstens die viel kürzere „2er Regel“:

Regel #1: Ich habe immer recht!

Regel #2: Sollte das mal nicht der Fall sein, tritt unverzüglich Regel #1 in Kraft.

Photo by Kajetan Sumila on Unsplash